Teil 5: Wohnraumversorgung - Wohnfläche und Suffizienz – Wie viel ist genug?
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Wohnraumversorgung
- Teil 1: Wohnraumversorgung – Hintergründe und Zusammenhänge
- Teil 2: Wohnraumversorgung - Klimaverträgliches Bauen
- Teil 3: Wohnraumversorgung - Was können natürliche Baustoffe bewirken?
- Teil 4: Wohnraumversorgung - Das Prinzip „Lego“: Rezyklierbarkeit und Kreislaufwirtschaft
- Teil 5: Wohnraumversorgung - Wohnfläche und Suffizienz – Wie viel ist genug?
- Teil 6: Wohnraumversorgung - Wo Märkte sinnvoll sind (und wo nicht)
- Teil 7: Wohnraumversorgung - Wohnungspolitische Instrumente und Eigentumsverhältnisse in Deutschland
- Teil 8: Wohnraumversorgung - Warum wir einen umfassenden kulturellen Wandel benötigen
- Teil 9: Wohnraumversorgung - Warum Wohnraum immer auch emotional ist
- Teil 10: Wohnraumversorgung - Unser „Neschtle“ oder die Transformation im Tun
Ist unser erlebter Mangel an Wohnfläche eigentlich de facto oder ist alles nur eine Frage der Verteilung und des eigenen Anspruchsdenkens? Und ist Neubau die einzig mögliche Antwort?
Wohnfläche: Haben versus brauchen
Wer sich fragt, wie eine ausreichende Wohnraumversorgung auch ökologisch vertretbar funktionieren kann, muss sich auch die Frage stellen, inwiefern Neubau hierzu überhaupt notwendig ist. Folgende Zahlen machen da nachdenklich: Seit 1992 ist die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf in Deutschland um 35% von 35,1 m² auf 47,4 m² (2022) gestiegen1. Dieselbe Anzahl Personen beansprucht heute also deutlich mehr Wohnfläche als vor 30 Jahren. Dies spiegelt sich auch im gesamten Flächenverbrauch wider. Täglich (!) werden in Deutschland 55 Hektar Fläche versiegelt, das entspricht 77 Fußballfeldern2. Im Laufe eines Jahres kommen so 285 km² zusammen, ungefähr 2,5mal die Fläche der Gemarkung Tübingen.
Gleichzeitig bedeuten die durchschnittlich 47,4 m² Wohnfläche pro Kopf natürlich nicht, dass alle Menschen so viel Fläche nutzen. Die Wohnfläche pro Kopf von Singlehaushalten ist mit 68 m² beispielsweise noch deutlich höher, während Personen in Haushalten von 3 Personen oder mehr im Schnitt nur 33 m² nutzen. Alte Menschen haben im Schnitt mehr Wohnraum zur Verfügung, weil sie nicht selten in Häusern oder Wohnungen wohnen, welche früher auch ihre Kinder beherbergt haben. Und auch die Herkunft spielt eine Rolle. So haben Menschen mit Migrationshintergrund deutlich weniger Wohnfläche zur Verfügung als Menschen ohne Migrationshintergrund.
Das allgegenwärtige Mantra des „knappen Wohnraums“ ist also nur bedingt richtig. Während Wohnraum in boomenden Städten wie Tübingen, München oder Berlin umkämpft ist, gibt es viel Leerstand und damit auch günstige Mieten zum Beispiel in Frankfurt (Oder), Pirmasens oder Chemnitz. Wohnraum ist also nicht unbedingt knapp, er ist nur oft nicht da, wo er gerade nachgefragt wird.
Unsichtbarer Wohnraum: Klimafreundliche Neubau-Alternative
Manchmal ist der Wohnraum aber sogar genau dort, wo er stark nachgefragt ist, wird aber trotzdem nicht angeboten. Beispiele sind leerstehende Einliegerwohnungen, welche nicht vermietet werden, oder durch den Auszug der Kinder frei gewordene und ungenutzte Zimmer. Unter dem Stichwort „Unsichtbarer Wohnraum“, rückt der Wohnwendeökonom Daniel Fuhrhop diese Wohnflächen in den Fokus. Er sieht im Bestand ein Potenzial von 100.000 Wohnungen. Von der Politik fordert er daher ein Abschied vom Neubau und eine konsequente Fokussierung auf die Aktivierung dieser nicht genutzten Wohnflächen.
Hierfür schlägt Fuhrhop unter anderem folgende Maßnahmen vor3:
- Untermiete / “Wohnen für Hilfe“: Durch Förderprogramme und Beratungsstellen zur Untervermietung könnten nicht genutzte Zimmer aktiviert werden. Denkbar ist dies auch als „Wohnen für Hilfe“, wodurch z.B. junge Menschen günstig bei älteren Menschen zur Untermiete wohnen und diese im Alltag unterstützen.
- Umzug / Wohnungstausch: Aktive Beratung zu Umzug und Wohnungstausch, um Personen eine Verkleinerung einfach zu machen.
- Umbau: Beratung von Eigentümer:innen zu Umbaumöglichkeiten,so dass zusätzlicher Wohnraum entsteht.
- Soziale Wohnraumvermittlung: Durch garantierte Mieteinnahmen und Begleitung des Mietverhältnisses durch die Kommunen werden Eigentümerinnen und Eigentümer dazu ermutigt, ihre leerstehenden Einliegerwohnungen (wieder) zu vermieten.
- Wohnraum teilen/flexibel nutzen: Ein flächensparendes Wohnen durch gemeinschaftliche und flexible Nutzung sollte zum Standard werden.
Daniel Fuhrhops Ideen bieten spannende Impulse wie der Bedarf an Wohnraum ökologisch verträglich erfüllt werden kann. Gleichzeitig zeigen seine Vorschläge auch die sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen des Wohnens auf. Schon lange bezeichnet die nestbau AG das Wohnen als „DIE soziale Frage unserer Zeit“. Warum wir das so sehen, werden wir euch in den nächsten Abschnitten unserer Serie erläutern. Hierfür gibt es zunächst einen kleinen Exkurs zur Funktionsweise von Märkten und warum diese für die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum nur sehr bedingt geeignet sind.