Teil 9: Wohnraumversorgung - Warum Wohnraum immer auch emotional ist
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Wohnraumversorgung
- Teil 1: Wohnraumversorgung – Hintergründe und Zusammenhänge
- Teil 2: Wohnraumversorgung - Klimaverträgliches Bauen
- Teil 3: Wohnraumversorgung - Was können natürliche Baustoffe bewirken?
- Teil 4: Wohnraumversorgung - Das Prinzip „Lego“: Rezyklierbarkeit und Kreislaufwirtschaft
- Teil 5: Wohnraumversorgung - Wohnfläche und Suffizienz – Wie viel ist genug?
- Teil 6: Wohnraumversorgung - Wo Märkte sinnvoll sind (und wo nicht)
- Teil 7: Wohnraumversorgung - Wohnungspolitische Instrumente und Eigentumsverhältnisse in Deutschland
- Teil 8: Wohnraumversorgung - Warum wir einen umfassenden kulturellen Wandel benötigen
- Teil 9: Wohnraumversorgung - Warum Wohnraum immer auch emotional ist
- Teil 10: Wohnraumversorgung - Unser „Neschtle“ oder die Transformation im Tun
In verschiedenen Lebensphasen gibt es unterschiedliche Bedarfe an Wohnraum. Im einfachsten Szenario wechselt man aus dem Elternhaus in eine kleine Wohnung oder WG und zieht irgendwann in deutlich größeren Wohnraum. Im Alter wird weniger Platz oder aber ein barrierefreies Wohnumfeld benötigt. Existiert dann ausreichend demografisch passender Wohnraum, wären theoretisch alle Menschen gut versorgt. Aber so einfach ist es eben nicht.
Wohnraum als existentielles Bedürfnis
1943 arbeitet der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow die menschlichen Grundbedürfnisse aus und bringt sie in eine hierarchische Ordnung.1. Auf der untersten und damit dringlichsten Ebene stehen Schlaf und Obdach als Basisbedürfnis aller Lebewesen. Nur eine Stufe weiter oben liegen die Sicherheitsbedürfnisse, in der das Obdach für Menschen nun konkret als „Wohnung“ benannt ist.
Wohnraum ist eine Weiterentwicklung des Überlebensbedürfnisses „Schutz“, kann aber noch viel mehr leisten. Aufeinander aufbauend bietet Wohnraum auch die Sicherheit und den Ort, wo auch die Sozialbedürfnisse gestillt werden. Auch die Individualbedürfnisse (Erfolg, Stärke, Freiheit, Anerkennung und Wertschätzung) können bei entsprechenden finanziellen Verhältnissen durch die Qualität des Wohnraums erfüllt, bzw. markiert werden.
Wohnraum als Resonanz des Selbst
Nach Maslow sind die einzelnen Bedürfnisse aufeinander aufbauend, weshalb sie oft als Pyramide dargestellt werden. Demnach müssen zunächst die Existenzbedürfnisse gestillt sein, bevor es Raum für die nächste Ebene gibt. Regulär – so zumindest die optimistische Annahme – sind in unserer Gesellschaft die untersten drei Bedürfnisebenen versorgt, so dass bei uns die Individualbedürfnisse und die Selbstverwirklichung die Ebenen sind, auf denen agiert wird.
Die reine Fläche und Lage unseres Lebensraums sowie die Frage nach Eigentum, dient bisher normativ noch als Anlass für Anerkennung, Bestätigung und Wichtigkeit und damit der Befriedigung der Individualbedürfnisse. Wenn wir Nachhaltigkeit in der Wohnraumversorgung wollen, ist hier ein gesellschaftliches Umdenken nötig. Denn wofür es kollektive Anerkennung gibt, hat sich historisch gesehen schon mehrfach gewandelt.
Wie wir unsere Wohnumgebung gestalten, ist Ausdruck unserer Selbstverwirklichung. Wir treten über die Wahl von Möbeln, Farben und Dekorationen in Kontakt mit uns Selbst, um unserer Selbstbild zu bestätigen oder umzugestalten. Unsere Wohnung ist auch der Ort, wo wir Gegenstände aus der eigenen Biografie ansammeln. Dazu kommen all die Ereignisse, die in unseren eigenen vier Wänden stattgefunden haben und die als Erinnerungen in genau diesen Wänden stecken. Die uns umgebenden, zum Teil auch greifbaren Erinnerungen, von denen wir einen Teil als Andenken und Fotos auch für andere sichtbar werden lassen, machen unsere Wohnung zu einem Zuhause und zu einem intimen Ort.
Bedarf ist nicht gleich Bedürfnis
Wenn nun im sozialpolitischen Teil unserer Serie klar geworden ist, dass der „Wohnungsmarkt“ nicht von einem realen Wohnbedarf gesteuert wird, sondern von kaufkräftigen Investments (vgl: Wo Märkte sinnvoll sind (und wo nicht)), zeigt sich jetzt außerdem deutlich, dass auch der Bedarf an Wohnraum von dem Bedürfnis nach sicherem, vertrautem Raum ausgehebelt werden kann.
Entscheidungen über den Wohnraum, den wir (weiter) bewohnen, sind oft nicht nur von einem realen Flächenbedarf, baulichen Anforderungen wie Barrierefreiheit und/oder unseren finanziellen Mitteln abhängig. Wir schließen gleichsam ein Kapitel der eigenen Biografie, wenn wir den Ort wechseln, an dem unser Lebensmittelpunkt stattfindet. Auch das Auswählen und Einpacken der Gegenstände, die mitkommen, ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen (Gegenstands-)Geschichte. So steckt im Ausmisten eine Gelegenheit der Vergangenheitsbewältigung und der neuen Akzentuierung der eigenen, teils sichtbaren Gesch-Ich-te. Dieser Prozess fordert und kann überfordern.
Daraus folgt auch, dass Argumentationen auf der rein rationalen Ebene nicht ausreichen werden, um gesamtgesellschaftliche Veränderungen in der Pro-Kopf-Flächennutzung zu bewirken. Es braucht auch einen Blick für das ganz individuelle Bedürfnis nach einem guten Ort für die eigene Geschichte und/oder einen attraktiven Startpunkt für das nächste Kapitel.
Fußnoten
- A Theory of Human Motivation. In Psychological Review. 1943, Vol. 50 #4, Seite 370–396, hier die Online-Ausgabe der York University (englische Quelle) zurück nach oben