„Das Neubaugebiet ohne Neubau“: Veranstaltung mit Dr. Daniel Fuhrhop
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Am 25.10.2023 hatten die nestbau AG und die Stadt Tübingen unter dem Stichwort „Unsichtbarer Wohnraum – Wie schaffen wir Wohnfläche im Bestand“ ins Technische Rathaus eingeladen.
Prominenter Gast war Wohnwendeökonom Dr. Daniel Fuhrhop. In seinem Vortrag machte Herr Fuhrhop deutlich, dass die Neubauziele der Bundesregierung (400.000 Wohnungen pro Jahr) und die Erfordernisse der Klimakrise in fundamentalem Konflikt zueinander stehen. Gleichzeitig erfordere aber der Mangel an bezahlbarem Wohnraum entschiedenes Handeln.
Verschiedene Lösungswege
Mit einem Mix aus verschiedensten Maßnahmen, wie „Wohnen für Hilfe“, einer „sozialen Wohnraumvermittlung“ und gezielten Umbaumaßnahmen könnten laut Fuhrhop ca. 100.000 Wohnungen im Bestand geschaffen werden.
Unter „Wohnen für Hilfe“ oder „Homesharing“ versteht Fuhrhop eine gezielte Vermittlung von jungen Menschen, die oft günstig wohnen müssen, an Senior:innen, die häufig (zu) viel Wohnraum haben und sich Gesellschaft und ggf. kleine Unterstützungen im Alltag wünschen.
Das Konzept der sozialen Wohnraumvermittlung richtet sich an Wohnungsbesitzer:innen, welche z.B. aufgrund von schlechter Erfahrung mit Mieter:innen ihre Wohnung(en) nicht mehr vermieten. Diesen garantiert die Kommune eine sichere Miete und kümmert sich zudem um eventuelle Reparaturen bzw. ist Ansprechpartner im Fall von Konflikten. Gemäß Fuhrhop konnte insbesondere die Stadt Karlsruhe durch ein solches Programm viele Wohnungen über das Angebot aktivieren, die dann wohlgemerkt fast ausschließlich Sozialwohnungen wurden. Die Maßnahme hilft also genau denen, die am meisten unter steigenden Mieten leiden.
Kommunen sollten die Aktivierung von unsichtbarem Wohnraum mit derselben Professionalität angehen, wie sie dies selbstverständlich bei der Entwicklung von Baugebieten tun. Daniel Fuhrhop, Wohnwendeökonom
Während es bei der Entwicklung von Neubaugebieten selbstverständlich sei, dass ganze Fachbereiche geschaffen werden, würden Programme zur Aktivierung von unsichtbarem Wohnraum oft stiefmütterlich behandelt und mit wenig personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet. Zusätzlicher Wohnraum ohne Neubau sei jedoch mit Abstand die ökologischste Art Wohnraum zu schaffen und müsse in den Verwaltungen entsprechend priorisiert werden. Gelingt die Aktivierung von unsichtbarem Wohnraum werde in einer Kommune quasi ein „Neubaugebiet ohne Neubau“ geschaffen.
Die Perspektive der städtischen Wohnraumbeauftragten
Im Anschluss an den Vortrag von Herrn Fuhrhop berichtete Julia Hartmann, Wohnraumbeauftragte der Stadt, von den Aktivitäten der Stadt Tübingen auf dem Gebiet des „unsichtbaren Wohnraums“. Es zeigt sich, dass die Stadt Tübingen bereits deutlich mehr als viele andere Städte auf die Potenziale im Bestand setzt. Die praktische Aktivierung von unsichtbarem Wohnraum im konkreten Fall ist jedoch oft schwieriger, als zunächst erhofft.
Neben Umbauberatung, einer Vermittlung von Wohnen für Hilfe, einer Sensibilisierung der Tübinger Bevölkerung für das Thema durch die Kampagne „Haben Sie noch Platz?“, wird im nächsten Jahr ein Pilotprojekt in WHO stattfinden. Es sollen gezielt Menschen im Quartier angesprochen werden und für Wohnungstausch oder Umbau/Umnutzung ihrer Wohnfläche gewonnen werden. Das Projekt fußt auf einer Potenzialanalyse, wonach allein im inneren Ring WHO knapp 700 Menschen mehr wohnen könnten, wenn die Wohnungen mit der Anzahl an Menschen belegt wären für die sie ursprünglich geplant waren. Für das Pilotprojekt werden deutlich mehr Ressourchen seitens der Stadt bereitgestellt.
Die Bretter sind dicker als wir das zunächst gedacht haben. Es braucht einen langen Atem. Julia Hartmann, Wohnraumbeauftrage der Stadt Tübingen
Die Perspektive als zivilgesellschaftlicher Akteur
Als Abschluss der Vortragstrilogie stellte Jördis Binroth unser aktuelles Projekt, das Pfrondorfer „Neschtle“ vor. Sie zeigt auf, wie auch ein Neubau Potenziale im Bestand heben kann. Auch wenn man Neubau generell so stark wie möglich reduziert werden sollte, braucht es punktuelle, möglichst klimaschonende Nachverdichtung: Zum einen muss vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung zusätzlicher altersgerechter Wohnraum geschaffen werden. Zum anderen braucht es überhaupt ein Angebot vor Ort, um insbesondere ältere Hausbesitzer:innen einen Umzug in kleinere Wohnungen zu ermöglichen. Im Idealfall biete die neue Wohnung trotz der geringeren Wohnfläche sogar eine bessere Lebensqualität: Der Alltag ist barrierefrei bewältigbar und die individuelle Einsamkeit verringert sich, da man auf Gemeinschaftsflächen mit den anderen Bewohnern des Hauses in Kontakt kommen kann.
Veränderung im Kleinen wie im Großen gelingt dann am besten, wenn das Neue attraktiver ist als das Bestehende. Jördis Binroth, nestbau AG
Themen auf dem Podium
Daniel Fuhrhop wandte sich an Julia Hartmann und schlug eine kommunale Förderung pro Quadratmeter reaktivierten unsichtbaren Wohnraums vor. Aus dem Publikum kamen Nachfragen zur Zweckentfremdungs-Gesetzgebung von Immobilien und die Information über den bundesweiten Leerstandsmelder.
Annette Guthy, Aufsichtsrätin der nestbau AG, brachte den Begriff der Suffizienz ein. Hierbei geht es darum, bei mindestens gleichbleibender Lebensqualität insgesamt mit weniger Fläche und Ressourcen auszukommen. Sie betonte die Wichtigkeit, ja Notwendigkeit, eines kulturellen Wandels. Nachhaltigkeit allgemein und insbesondere im Bereich des Wohnens werde ohne eine Veränderung der gesellschaftlichen Ziel- und Wertvorstellung nicht gelingen. Es gehe darum, sich vom „mehr= besser“ zu verabschieden und die Schönheit des Bedarfsgerechten, des Ausreichenden zu erkennen.
Ausblick
Zum Abschluss fragte Moderator Prof. Dr. Ulrich Otto, was es nun brauche, um ein Momentum für die Aktivierung von unsichtbarem Wohnraum in Tübingen zu erwirken. Wir glauben, dass ein solches gerade im Entstehen ist. In den letzten beiden Wochen fanden neben unserer Veranstaltung noch drei weitere Veranstaltungen zum Thema Wohnraum statt: Am 17.10. eine Podiumsdiskussion zu Leerstand im Blauen Salon des Wohnprojekts Münze, am 19.10. in der Schule am Hechinger Eck eine Veranstaltung der neustart Genossenschaft zum gemeinschaftlichem Wohnen und am 26.10. ein Vortrag von Prof. Dr. Schellnhuber unter dem Titel „Bauen und Wohnen in Zeiten der Klimakrise“. Gleichzeitig ist der Druck auf die Tübinger Mietpreise leider so hoch, dass immer mehr Menschen verstehen, dass die Frage nach bezahlbarem Wohnraum alle etwas angeht.