Ambulant betreute Wohngemeinschaften - eine Wohnform in der Krise?!
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Unsere Aufsichtsrätin Dr. Beate Radzey ordnet das politische Umfeld rund um die ambulant betreuten Pflege-WGs ein.
WGs als gemeinschaftliche Form häuslicher Betreuung und Pflege
Noch nie waren die Chancen so hoch wie heute bei relativer Gesundheit ein hohes Lebensalter zu erreichen. Treten dann doch gesundheitliche Einschränkungen und Pflegebedarf auf, ist das Pflegeheim in der Regel nicht die erste Wahl. Die klare Mehrheit der älteren Bevölkerung will auch im Alter selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden oder zumindest am Wohnstandort wohnen bleiben und kann sich den Einzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung nicht vorstellen.
Neue, alternative Wohn- und Sorgemodelle in „geteilter Verantwortung“ wie die Pflege-WG (korrekt: "ambulant betreute Wohngemeinschaft") finden daher immer mehr Zuspruch.
Bei dieser familiären Wohnform für Menschen mit Pflegebedarf oder Behinderung leben bis zu zwölf Personen in einem gemeinsamen Haushalt mitten in der Gemeinde. Die Betreuungs-/ Pflegeleistungen sowie hauswirtschaftliche Versorgung werden kooperativ von professionellen Dienstleistern, Angehörigen und Ehrenamtlichen rund um die Uhr erbracht. Die Mieter*innen sind – wenn möglich - Mitgestaltende des Alltags und werden aktiv eingebunden.
Unsere 8er Pflege-WG am alten Güterbahnhof
WGs als qualitätsvolles Wohn- und Sorgeangebot
Damit bieten ambulant betreute Wohngemeinschaften sowohl eine hohe Versorgungssicherheit als auch ein großes Maß an Selbst- und Mitbestimmung für die dort lebenden Menschen. Das Leben und der Alltag in der WG werden nicht durch betriebliche Logiken, Regelhaftigkeit und externe Anforderungen bestimmt, sondern gemeinsam ausgehandelt. Der Alltag orientiert sich an den individuellen Wünschen und dem gewohnten Leben. So wird mehr Demokratie, Mitgestaltungsmöglichkeit und Gemeinschaft realisiert. Die Qualität lässt sich nicht vorrangig an formalen Standards festmachen, stattdessen bestimmen Familienorientierung und gemeinsame Aushandlungsprozesse das Zusammenleben.
WGs als wichtiger Baustein einer wohnortnahen Versorgungsstruktur
2014 wurde mit dem WTPG (Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz) in Baden-Württemberg ein gesetzlicher Rahmen geschaffen, durch den sich Pflege-WGs als eine familiäre, wohnortverbundene und beteiligungsorientierte Wohnform im Versorgungssystem fest etabliert haben. Seither sind viele Wohngemeinschaften neu entstanden. WGs bewähren sich als ein wichtiger Baustein einer wohnortnahen Versorgungsstruktur. Sie ermöglichen in kleinen Kommunen den Aufbau eines ortsangepassten pflegerischen Angebots; in größeren Kommunen können sie vorhandene Angebote ergänzen und eine Versorgung für besondere Zielgruppen anbieten. Ein weiterer Vorteil ist, dass WGs im Rahmen des normalen Wohnungsbaus realisierbar sind und ein entsprechendes wohnliches Ambiente bieten. Sie sind eingebettet in Dorfgemeinschaften und Quartiere und stärken somit den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor Ort.
Gelb markiert: Hier wird die Unterjesinger 8er Pflege-WG Platz finden - raffiniert und maßstäblich eingefügt in kleinteilig wirkende Bebauung
WGs als Verlierer der jüngsten sozialpolitischen Neuerungen
Dieser positive Entwicklungstrend ist seit 2023 jedoch erheblich ins Stocken geraten. Ein zentraler Grund hierfür ist eine Schieflage bei der Finanzierung: Während die stationäre Pflege durch Novellierungen in der Pflegeversicherung (GVWG sowie PUEG) finanziell entlastet wurde, so dass sich die Eigenanteile der dort lebenden Menschen von Jahr zu Jahr reduzieren, blieben die WGs hier unberücksichtigt.
Dies bedeutet, dass beide Wohnformen bei Einzug des Pflegebedürftigen ungefähr gleich viel kosten, aber die Person, die im Pflegeheim lebt im Lauf der Zeit immer weniger bezahlt. Durch das Scheitern der Ampel-Koalition auf Bundesebene sind weitere Novellierungen in der Pflegeversicherung erst einmal gestoppt. Jetzt ist abzuwarten, ob die künftige Bundesregierung das Thema der innovativen Wohnformen und deren Finanzierung in den Koalitionsverhandlungen zum Thema machen wird.
Grundriss unserer 8er WG Alter Güterbahnhof
Sehr frühzeitig haben wir in der nestbau AG die Chancen der Pflege-WG erkannt: quartiersorientiert, wohnortnah, überschaubar, vom Wohnen und nicht von der „Versorgung“ oder gar „dem Pflegefall“ her gedacht. Dass die Stadt Tübingen relativ früh und dann sehr klar auf diese Form eingeschwenkt ist, hat sicher auch mit den von uns mit-realisierten Beispielen zu tun:
- In unserem ältesten Haus – dem Schleifmühleweg 75 – hatten wir bereits zwei Inklusions-WG integriert. Hier liegt der Fokus nicht auf Älterwerden und Pflegebedürftigkeit – die Grundideen der Normalisierung und Wohnortnähe sowie der Partizipation der Bewohnenden verbindet aber diese Form mit den WG’s für Ältere.
- Im Frühjahr 2019 wurde die erste Pflege-Wohngemeinschaft der nestbau AG im Tübinger Neubaugebiet Alter Güterbahnhof fertiggestellt. In der von den Angehörigen selbst verwalteten WG leben acht Menschen, überwiegend mit demenziellen Erkrankungen. 2020 dazu ein schöner Tagblatt-Artikel und im Sommer 2024 kam sogar Sozialminister Lucha zu Besuch.
- In Hirschau haben wir im Rahmen eines Geflüchtetenhauses einer Baugruppe im EG eine 11er-Pflege-WG realisiert. Bezug war Anfang 2020 - zeitgleich mit der anrollenden Corona-Welle. Infos zur dortigen WG
- In Kirchheim befindet sich in der fast 500 m² großen Dachgeschoss-Wohnung eine ambulant betreute Pflege-Wohngemeinschaft mit 12 Plätzen. Einzug war 2021. Die Pflege-WG wird vom Verein Wohnvielfalt aus Stuttgart zusammen mit den Malteser Hilfsdiensten gGmbH betrieben und stellt rund um die Uhr eine Betreuungskraft vor Ort. Infos zur dortigen WG
- Und ganz aktuell gestalten wir mit bei der Genossenschaft "Unterjesingen. gut. leben - in jedem Alter" - als tatkräftige Projektsteuerer. Auch hier ist eine 8er-Pflege-WG ein integraler Bestandteil.