Wem hilft der „Bauturbo“?
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Deutschland steckt mitten in einer Wohnraumkrise. Besonders in Ballungszentren fehlt es an bezahlbarem Wohnraum, während die Mieten unaufhörlich steigen. Anderswo sterben Dörfer und innerörtliche Dorfstrukturen sind durch Leerstand bestimmt.
Die Bundesregierung versucht, mit einem neuen „Gesetz zur Beschleunigung des Wohnungsbaus und zur Wohnraumsicherung“, oft auch schlicht „Bauturbo“ genannt, gegenzusteuern.
Es hört sich zunächst gut an: weniger Bürokratie, schnellere Verfahren und Baufreigaben, neue Möglichkeiten auch dort zu bauen, wo es bisher nicht möglich war. Aber wenn man genauer nachliest, verkommt es zur Farce offensichtlicher Klientelpolitik.
In Ba-Wü kommen 4.6 EFH bzw. DHH auf 1 Mehrfamilienhaus. Trotzdem stellen letztere mehr Wohnungen bereit.
Gesetzgebungsverfahren soll noch im Herbst 2025 abgeschlossen sein
Aktuell ist das Gesetz im Gesetzgebungsverfahren. Im Herbst 2025 sollen die Lesungen abgeschlossen sein. Am 10.09.2025 findet die öffentliche Sitzung statt. (Sie wird online auf bundestag.de übertragen.)
Wer den aktellen Stand genauer studiert findet Erstaunliches. Der vorliegende Entwurf der Schwarz-Roten Bundesregierung ist ein veränderter Entwurf, der sich an einem Gesetzentwurf noch aus der Vorgängerregierung orientiert. Die Änderungen haben es in sich.
Konnte der Gesetzentwurf der Ampelregierung noch als Regelung in die richtige Richtung interpretiert werden, konterkariert die neue Regierung die ursprünglichen Ziele.
Aber der Reihe nach:
Der – inzwischen obsolete – Gesetzentwurf der Ampelregierung zur Einführung einer befristeten Sonderregelung für den Wohnungsbau im Baugesetzbuch (Drucksache 20/14261) sah im Kern (vereinfacht) Folgendes vor:
- Die Sonderregelung sollte bis Ende 2028 gelten.
- In Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt (definiert nach § 201a) konnte von manchen Baugesetzen abgewichen werden. Voraussetzung: Zustimmung der Gemeinde sowie die Wahrung nachbarlicher Interessen und öffentlicher Belange.
Dies galt, sofern entweder
- Wohngebäude mit mindestens sechs Wohnungen,
- bestehende Wohngebäude durch Aufstockung oder Erweiterung oder
- Wohnungen durch die Umnutzung von Nichtwohngebäude
entstehen sollten.
Das war noch weit entfernt von einer grundlegenden, dringend notwendigen Transformation hin zu einer wirklichen Bauwende, die Nachhaltigkeit und bezahlbarer Wohnraum vereint. Immerhin aber hätte es insbesondere in Ballungszentren mehr Möglichkeiten geschaffen, schnell neuen Wohnraum zu errichten.
Was sich jetzt ändert
Die neue Schwarz-Rote Regierung hat diesen Entwurf nun überarbeitet und verändert vorgelegt. Und die Änderungen haben es in sich.
- Die Sonderregelung soll länger gelten – bis 2030.
- Es gilt nicht nur in angespannten Wohnungsmärkten, sondern überall dort, wo die Gemeinde zustimmt sowie die nachbarlichen Interessen und öffentliche Belange gewahrt werden.
Erfasst werden nun:
- alle Wohngebäude,
- Gebäude, die aufgestockt oder erweitert werden,
- Nichtwohngebäude, die zu Wohngebäuden umgenutzt werden sollen.
Beispiel kompakter Mehrfamilienhäuser inmitten EFH-Siedlung: (1) das Neschtle
Was bedeutet das?
Die Verlängerung der Gültigkeit des Gesetzes ist erstmal nicht zu beanstanden.
Ausweitung auf alle Gemeinden: auf den ersten Blick scheint dies begrüßenswert, da Kommunen damit mehr Mitspracherecht erhalten sowie die Möglichkeit, lokale individuelle Lösungen zu finden. Ob und wie dies - erfolgreich - genutzt wird, hängt von der Haltung der lokalen Entscheidungsträger und der praktischen Anwendung vor Ort ab. Das ursprüngliche Ziel – die Schaffung von Wohnraum in Regionen mit Wohnungsnot – kann allerdings ausgehebelt werden. Wir fragen uns: Warum soll eine Sonderregelung zur Aushebelung des Baugesetzes für Gebiete geschaffen werden, in denen gar keine Notwendigkeit besteht?
Wegfall der Mindestwohnungsanzahl: Das ist der eigentliche Hammer: Bisher war vorgesehen, dass es um Mehrfamilienhäuser in angespannten Wohnungsmärkten geht. Jetzt gilt die Regelung für alle Wohngebäude – also auch für Ein- oder Zweifamilienhäuser. Und nicht mehr nur in Gebieten, wo Wohnungsnot herrscht. Und mit der Zustimmung der Gemeinde lässt sich damit auch im Außenbereich bauen, was bisher nicht möglich war.
Ein Entwurf, der ursprünglich dazu gedacht war, Mehrfamilienhäuser in Baulücken der Ballungszentren zu ermöglichen, wird nun so umformuliert, dass er auch Ein- und Zweifamilienhäuser im Außenbereich in ländlichen Gebieten ohne Wohnungsnot ermöglicht. Und das unter dem Deckmantel „Bauturbo gegen die Wohnungsnot“.
Frau Angelika Majchrzak-Rummel zitiert jungle.world auf Ihrem sehr zu empfehlendem Blog und Newsletter zurecht:
„Wohlhabende Landbesitzer im ländlichen Raum, die dort häufig beste Beziehungen mit kommunalen Entscheidungsgremien unterhalten, erhalten dadurch eine Möglichkeit, ihren Besitz unter Umgehung bisher geltender Vorschriften in Bauland umzuwandeln.
Dies ist wohl die Definition von Klientelpolitik.
Wohnungsbau zwischen Notwendigkeit und Nachhaltigkeit
Der Wohnungsbau in Deutschland steht vor gewaltigen Herausforderungen. Wir brauchen dringend neuen bezahlbaren Wohnraum – aber nicht überall, sondern vor allem in den Gebieten mit großem Bedarf - oft Ballungszentren. In vielen anderen Regionen hingegen kennzeichnen Leerstände und schrumpfende Bevölkerungszahlen die Stadt- und Ortskerne. Der demografische Wandel lässt seit langem schon erkennen, dass sich dies in vielen Regionen verschärfen wird. Insbesondere viele Ein- und Zweifamilienhäuser der Boomer-Generation werden in naher Zukunft, insbesondere in ländlichen Regionen, nicht mehr benötigt werden.
Luftbild südwestlicher Ortsrand TÜ-Pfrondorf, Pfeil: Neschtle
In einer solchen Phase Einfamilienhäuser an den Ortsrand oder gar in den Außenbereich bauen zu lassen hat fatale Auswirkungen. Und als Schmankerl gibt’s oben drauf die ökologische Folgen: Flächenfraß, Eingriffe in Ökosysteme, Belastungen für Klima und Biodiversität.
Das neue Gesetz zementiert (im wörtlichen Sinne) die Fehlentwicklung für Generationen. Baupolitik ist Zukunftspolitik. Die Ausweisung von Baugrundstücken heute hat Auswirkungen auf unser Landschaftsbild, Ökologie und Gesellschaft für viele Jahrzehnte. Vermutlich Jahrhunderte. Wie man diese irreversible Entwicklung nicht nur zulässt, sondern sehenden Auges mit einer Sonderregelung – lapidar als (offizielles Zitat aus dem Gesetzentwurf:) „Experimentierklausel“ der eigenen Klientelpolitik opfert bleibt erschreckend.
Kennzahlen zum u.g. Hirschau-Haus im Vergleich zu klass. EFH-Baufeld: Ertüchtigung und verträgliche höhere Dichte im Bestandsgebiet voller EFH + DHH
Es geht auch anders,
das zeigen viele Initiativen - einige besonders beispielgebende von der nestbau selbst:
- Unser Modellprojekt in Tübingen-Pfrondorf „Neschtle“ (Bild weiter oben) etwa zeigt, wie sich Wohnraum ohne neue Flächenversiegelung schaffen lässt. Jungen Familien ermöglicht es, in den oft größeren Ein- oder Zweifamilienhäusern zu wohnen und z.B. älteren Menschen – gleichzeitig – lebenslaufgerechtes Wohnen. Und es trägt zu weniger Flächenfraß bei, mit all seinen schädlichen Biodiversitäts- und Klimafolgen. Als kleines Mehrfamilienhaus fügt es sich bestens in die Umgebungsbebauung ein. Damit ist es eine Win-Win-Win-Situation.
Die Neschtle-Idee der Wohnflächenverkleinerung im Lebenslauf
- Vor 5 Jahren haben wir in TÜ-Hirschau ein 7-Familienhaus mitten in einem EFH- und DHH-Gebiet mitkonzipiert, das ebenso beispielgebend ist. Es bringt nicht nur in kompaktem aber gut sich einfügenden Bau 7 barrierefrei erschlossene Wohnungen in das Gebiet. Sondern zusätzlich eine 11er Pflege-Wohngemeinschaft.
Ein solches Haus ermöglicht - wie das Neschtle - ebenso potenziell nahräumliches Umziehen - bestenfalls mit verkleinerter Wohnfläche. Zugleich ist es ein Baustein zur Demografiefestigkeit dieser diesbezüglich so besonders schwachen Wohngebiete - sowohl durch die barrierearmen Wohnungen wie durch die Pflege-WG: Sie ermöglicht es, auch bei steigendem und hohem Pflegebedarf im Flecken wohnen zu bleiben!
Luftbild südlicher Ortsrand TÜ-Hirschau, Pfeil: unser Haus
Obwohl 7 WE plus Pflege-WG (ganzes EG) fügt es sich bestens ein
Dass der Neubau von Einfamilienhäuser nicht mehr zeitgemäß ist, wird auch Thema in einer Veranstaltung mit dem Einfamilienhaus-Kritiker Jan Engelke am 30. September in der Westspitze sein. Engelke ist bekannt geworden mit der Aussage „das Einfamilienhaus ist sexistisch“. Und hat es damit nicht nur in die BILD-Zeitung geschafft sondern regt mindestens zum Hinterfragen des Traums vom Einfamilienhaus an. Dabei geht es nicht um den Verbot zum Wohnen in Einfamilienhäuser, sondern viel mehr um die Erkenntnis, dass es mehr als genug davon gibt und dass der Neubau zukünftig nicht tragfähig ist.
Herzliche Einladung an alle interessierten Bürger:innen – auch die Anhänger:innen des Schwarz-Roten Bauturbo sind eingeladen.