Vom Lehrerzimmer in die Wohnwirtschaft - berufliche Neuorientierung bei der nestbau AG
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Rebecca Pusch hat von Oktober 23 bis März 24 ein Praktikum bei der nestbau AG absolviert. Sie schildert im folgenden Bericht ihre Erfahrungen als Praktikantin unserer Bürger-AG. Rebecca hat uns insbesondere bei der Social-Media-Kommunikation, bei Veranstaltungen und bei der Erstellung der aktuellen Gemeinwohl-Bilanz unterstützt. Sie hat zudem ihre Leidenschaft für Fotografie eingebracht, wodurch die neuen Porträtfotos des nestbau-Teams entstanden sind. Die ehemalige Gymnasiallehrkraft befindet sich gerade in einer beruflichen Neuorientierung. Wir freuen uns, dass wir ihr auf diesem Weg einige hilfreiche Impulse geben konnten.
Da stehe ich also und mache das Licht aus. Mein Blick streift noch einmal über meinen leeren Schreibtisch. Ich bin heute die letzte im Büro – berechtigterweise um 19.00 Uhr. Mein letzter Arbeitstag als Praktikantin in der nestbau AG endet.
Rückblick: FairHandeln Messe 2023
Ich schlendere über die FairHandeln Messe im April 2023 in Stuttgart und überlege, ob mich irgendetwas hier als Queraussteigerin aus dem Lehramtsberuf interessieren könnte. Ein Messestand fällt mir ins Auge, da er der einzige ist, der aus Tübingen kommt. Ich sehe die Begriffe Bauen, Mieten, Immobilien… also ich weiß ja nicht…? Dann sehe ich aber auch nachhaltig, ethisch, sicher, transparent, gemeinwohlorientiert… Na, sich informieren und einfach mal trauen, nach möglichen Job-Alternativen zu fragen - das kann mir auf meinem Weg in ein Berufsleben außerhalb des Schulsystems nicht schaden. Prompt ergibt sich ein sehr nettes Gespräch. Gunnar Laufer-Stark erklärt mir mit einem Espresso in der Hand, dass es zwar gerade keine Jobangebote bei der nestbau AG gäbe, aber in absehbarer Zeit Vorstandsnachfolger:innen gesucht würden. Lachend erwidere ich, dass ich eher auf der Suche nach einem Praktikum bin, da ich mich beruflich neu orientieren will. Und tatsächlich habe ich Glück. Von Markus Buckenmayer erfahre ich mehr über die Idee der nestbau AG und auch, dass sie tatsächlich eine Praktikumsstelle ausschreiben und ich mich bei Interesse einfach mal melden könne.
Zuhause geht mir die nestbau AG mit ihrer Idee einer gemeinwohlorientierten und nachhaltigen Wohnwende, vor allem aber auch der einladende und positive Austausch mit Markus, Gunnar und den anderen am Messestand nicht aus dem Kopf. Mit klopfendem Herzen und viel vorheriger Gedankenarbeit schicke ich ein paar Tage später meine Bewerbungsmail ab. Ab da geht alles ganz schnell. Das „unverbindliche Treffen“, zu dem ich eingeladen werde, entpuppt sich als für mich völlig überraschendes, schon sehr konkretes Vorstellungsgespräch mit Markus und Gunnar. Im Nachhinein ein Glück, dass ich das nicht wusste! Ich komme mir zwar etwas unvorbereitet vor, aber mein Mut zur Ehrlichkeit und Transparenz, was meine Motive zum Ausstieg aus dem Lehrerjob und der Verbeamtung angeht, wird belohnt – ich werde Praktikantin in der nestbau AG.
1. Arbeitstag: Was wird wohl auf mich zukommen?
Am 16.10.23 um 9 Uhr betrete ich meinen neuen Arbeitsplatz für die nächsten Monate. Bis zu diesem ersten Tag hatte ich nicht so wirklich Vorstellungen davon, was mich erwartet. Nervös bin ich nicht, aber angespannt schon. Schließlich habe ich keine Ahnung von dieser Arbeitswelt „da draußen“, außerhalb der Schule. Was macht man da den ganzen Tag eigentlich? Und mit Immobilien und Bauen und Mieten und Gemeinwohl-Ökonomie habe ich mich bislang nicht auseinandergesetzt.
Doch schon in den ersten Tagen tritt ein, was ich mir vielleicht erhofft, aber nicht erwartet hätte. Alle nehmen mich sehr wohlwollend und mit viel Geduld in den Arbeitsalltag auf. Eine klare Struktur, ein eigener Arbeitsplatz, eigene Zugänge zum Intranet und die ersten eigenen Aufgaben geben mir direkt das Gefühl, mitgenommen zu werden und ein produktiver Teil der nestbau AG sein zu können. Anita und Marie, mit denen ich im Büro sitze, beantworten mir sehr geduldig jede Frage und geben mir erste Aufgaben. Jördis bietet mir an, sie in der Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen, betont aber gleichzeitig, dass ich mich dazu nicht gedrängt fühlen soll. Vor allem Gunnar und Markus machen mir dann klar, wo sie mich gerne einsetzen würden.
Meine Aufgaben bei der nestbau AG
Neben der Erstellung der Gemeinwohl-Bilanz, die bis Anfang 2024 fertig sein soll, möchte mir Gunnar zeigen, was die nestbau AG auch macht – innovative Ideen der Immobilienbranche projektieren. So fahre ich mit nach Pforzheim zur Begehung des Lutherhaus-Areals: Es soll neu gestaltet und durch die nestbau AG mit einer Machbarkeitsstudie begleitet werden. Ich erfahre, wie langsam Stadtentwicklungsmühlen mahlen. Außerdem wird mir die Erstellung der CO2- Bilanz anvertraut, welche für den Bau des Pfrondorfer „Neschtle“ geplant ist. Das bedeutet, mich in Rechnungsbelege, Materialkennungen- und größen einzuarbeiten und mit Baufirmen und Handwerk zu telefonieren. Mit solch einer verantwortungsvollen Aufgabe betraut zu werden, hätte ich nicht gerechnet. Nicht nur dabei werde ich mit einer Seite von mir konfrontiert, die mir bislang weniger offensichtlich schien – meinem Hang dazu, etwas sehr genau machen zu wollen, um zu zeigen, dass ich schnell begreife und Dinge schnell umsetzen kann, selbst, wenn ich davon bislang wenig Ahnung hatte. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass mir eine meiner Stärken hier hilft: meine Art zu kommunizieren und selbstständig etwas zu versuchen und bei Unsicherheiten lieber einmal mehr nachzufragen, um es beim nächsten Mal dann besser zu können. Das erkennen und reflektieren zu können, habe ich vor allem Markus zu verdanken, der mich nicht nur in der Erstellung der Gemeinwohl-Bilanz, sondern auch mit seinem Zutrauen in mich in anderen Bereichen, unterstützt und mir Feedback gibt.
Nach und nach werde ich sicherer in den Aufgaben, die mir zugetragen werden und es kommen Bereiche hinzu, in denen ich mich einbringen kann. Ich bekomme Einsichten in Buchhaltung und Hausverwaltungsangelegenheiten, lerne dutzende Abkürzungen der Unternehmenswelt, der Baubranche und der internen Kommunikation kennen, poste im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit Beiträge auf Social Media, lese Blogbeiträge oder Berichte Korrektur, führe erste Keyword-Analysen durch, probiere mich im Businessportrait-Fotoshooting aus, schneide Videos von Veranstaltungen und veröffentliche diese auf Youtube. Auch bei Vorträgen und Veranstaltungen, wie im Weltethos-Institut oder mit Wohnwendeökonom Daniel Fuhrhop, kann ich vorbereitend unterstützen. Aber schnell ist es nicht nur das „Abarbeiten“ von Aufgaben, was meinen Arbeitstag ausmacht. Sondern auch das Auseinandersetzen mit und Besprechen von Ideen, Vorgehensweisen, Herausforderungen oder Zielen. Ich fühle mich eingebunden und aufgenommen in das Team und die Vision, die die nestbau AG ausmacht.
Jahreswechsel - ist es wirklich nur ein Praktikum?
Nach dem Jahreswechsel merke ich, dass die Zeit unglaublich schnell vergeht und ich mir Gedanken darüber machen muss, wie meine nächsten Schritte nach dem Praktikum in der nestbau AG aussehen. Nachdem klar ist, dass es mich für ein paar Monate nach Hamburg verschlagen wird, verlängert Gunnar völlig unproblematisch und wohlwollend meinen Praktikumsvertrag um einen Monat, sodass mein Übergang in die nächste Phase unkompliziert verlaufen kann und ich somit auch noch das Richtfest in Pfrondorf und den Abschluss der nächsten Gemeinwohl-Bilanzierung mitbekomme. Ich bin dankbar für dieses Entgegenkommen und seine Unterstützung – nicht nur mit dem Vertrag, sondern in meiner ganzen Orientierungsphase, für die er mir immer wieder wertvollen Input und Rückmeldungen gibt.
Sowieso fühlt es sich nicht so an, als sei ich „nur“ eine Praktikantin. Ja, ich fülle keine eigene Stelle aus und ja, es ist klar, dass meine Zeit bei der nestbau AG begrenzt sein wird. Aber ich spüre das an keinem Tag, an dem ich dort bin. Neben den fairen Vertragsbedingungen, die mich als Arbeitskraft wertschätzen, sind es die kleinen Kaffeepausengespräche in der Küche oder zwischendurch, die sich nicht wie Smalltalk anfühlen, sondern Bedeutung haben. Bedürfnisse werden gesehen und wo möglich berücksichtigt, immer aber versucht zu besprechen. Das Miteinander ist lustig, offen, vertraut und produktiv und die Stimmung, wenn nicht gerade das Regenwetter den Bau des „Neschtles“ erschwert, die Bauzinsen in die Höhe schießen oder eine Krankheitswelle anrollt, zukunftsorientiert, sozial und geprägt von der Vision einer besseren Welt, die wir selbst gestalten können. Dieser Gemeinwohlgedanke setzt sich in mir fest in den Monaten, die ich in der nestbau AG verbringe und ich gehe mit einem unglaublichen Wissensschatz, einer großen Dankbarkeit an all die tollen Menschen, die hinter der nestbau AG stehen, und einer enormen Persönlichkeitsentwicklung aus diesem halben Jahr heraus.
FairHandeln Messe 2024: Der Kreis schließt sich
Ein paar Wochen nach meinem letzten Arbeitstag im Schleifmühleweg stehe ich wieder auf der FairHandeln Messe 2024 in Stuttgart. Diesmal mit Namensschild und einem selbstbewussten Lächeln am Stand der nestbau AG. Nicht als feste Mitarbeiterin, aber als ehemalige Praktikantin, die sich mittlerweile mit der Idee des gemeinwohlorientierten Mietwohnbauens identifiziert. Ich informiere Interessierte zur Idee des Pfrondorfer „Neschtle“ oder der nestbau AG als Bürger-Aktiengesellschaft und teile Zeichnungsscheine aus. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht?