Ein neues Verständnis von Architektur & Bauplanung
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Manuel Rausch, auch als freier Architekt tätig, leitete unsere Kooperation mit der Professur Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technik und hat für uns noch einmal seine Gedanken rund um das Projekt des Pfrondorfer Neschtles und nötige Innovationen der Baubranche verschriftlicht.
Professur Nachhaltiges Bauen/KIT trifft nestbau AG
Im Wintersemester 2020/2021 haben Studierende der Professur Nachhaltiges Bauen am KIT in Karlsruhe in Kooperation mit der nestbau AG einen Entwurf mit dem Titel “(H)Austausch!” bearbeitet. Hier ein Einblick in die Ergebnisse: (H)Austausch! – Innovative Wohnkonzepte für die Generation Gold
Ein Ausgangpunkt für die Überlegungen stellte dabei das Phänomen dar, dass laut statistischem Bundesamt immer mehr Wohnfläche pro Kopf verbraucht wird. Dies resultiert häufig durch die Lücke zwischen demografischer und persönlicher Veränderungen in unterschiedlichen Lebensphasen und der sich nicht anpassenden Wohnsituation. Letztere bleibt oft gleich, insbesondere bei Einfamilienhausstrukturen. Wenn die Kinder aus dem Haus sind oder der/die Lebenspartner/in verstorben ist, bleibt das große Haus oft einer Person überlassen. Dies führt nicht selten zu weit über 100 m² liegenden Wohnflächenverbräuchen für Einzelpersonen. Hinzu kommt, dass mit zunehmendem Alter der Bewohner das Eigenheim in vielen Fällen zur Last wird.
Auf der anderen Seite stand die Feststellung, dass insbesondere junge Familien häufig händeringend (und oft erfolglos) nach Wohnraum außerhalb der Kernstädte suchen. Grundstücke sind rar und teuer. Neubaugebiete, die die übliche Antwort auf diese Problematik darstellen, verbrauchen und versiegeln wertvolle Bodenflächen, die womöglich gar nicht benötigt werden.
Die Idee hinter dem architektonischen Entwurf war, durch „(H)Austausch!“ eine „win-win“-Situation für beide Generationen zu ermöglichen und gleichzeitig den neuen Flächenbedarf an Bauland so gering wie möglich zu halten. Die These lautete: Wenn man es schafft, attraktive Wohnformen in gewohnter Nachbarschaft zu etablieren, werden Häuser und Wohnungen frei für junge Familien, ohne dafür viel weiteren Boden erschließen oder versiegeln zu müssen.
Im Fokus der Aufgabe stand eine Einfamilienhaussiedlung in einem Ortsteil von Pfrondorf bei Tübingen. Ein Grundstück in unmittelbarer Nähe zur Siedlung sollte innovatives und altersgerechtes Wohnen ermöglichen. Auf dem Grundstück stand bereits ein Bungalow, dessen Verbleib untersucht werden musste. Ein Vorzug der Lage ist die Nähe zum bekannten Umfeld. Diese wirkt sich positiv auf den sozialen Austausch und die Identifikation der Bewohner mit der neuen Wohnsituation aus.
Mit großem Interesse konnten Studierende vom KIT in einer Online-Partizipation Bewohner:innen des Viertels befragen und dadurch direkte Einblicke gewinnen. Im Anschluss daran entstanden innovative architektonische Entwürfe für das Grundstück inmitten der Siedlung. Die Studierenden berücksichtigten bei der Bauaufgabe Themen wie Barrierefreiheit und Flexibilität, neue Cluster-Wohnformen, Senioren-WGs und gemeinschaftlich genutzte Flächen. Darüber hinaus wurde ebenfalls die Thematik des gesunden Wohnens betrachtet, die nachhaltige Baumaterialien und kreislaufgerechtes Bauen integrieren.
In den folgenden Zeilen möchten wir einige Erkenntnisse und Gedanken zu unseren aktuellen Herausforderungen in der Bauwirtschaft und zu den Anforderungen an eine ernstzunehmende nachhaltige Architektur formulieren.
Herausforderungen
Der Klimaschutz stellt unsere Gesellschaft vor eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Gleichzeitig bietet diese aber auch enorme Chance und Potenziale, für unsere zukünftige Art und Weise zu leben und zu arbeiten. Für den Bausektor als einem der größten CO2-Emittenten stellen sich dabei aber einige erhebliche Fragen: Lassen sich kosten- und zeitintensive Bauprozesse schnell genug umgestalten? Funktioniert das mit den gleichen Lösungsansätzen, die zu der vorherrschenden Situation geführt haben? Reichen die Ressourcen, um unseren Bedarf zu decken? Woher bekommen wir diese Ressourcen in Zukunft überhaupt? Woher kommt die Verbrauchsenergie?
Lebenszyklen von Gebäuden und Material
Seit geraumer Zeit wächst das Wissen, dass es nicht ausreicht den Bauprozess erst ab dem Zeitpunkt des „Spatenstichs“ zu betrachten. Wir müssen vielmehr die gesamte Kette des Bauens mit einbeziehen. Woher kommen die Baustoffe und wo gehen sie hin? Das wiederum liegt maßgeblich an der Fügung und Konstruktion unserer Bauwerke. Dafür müssen wir alle Prozesse zu Kreisläufen umbauen, die nach Vorbild der Natur, keinen Müll, sondern immer nur Nährstoffe für den nächsten Kreislauf produzieren. Baustoffe und Bauteile müssen so gestaltet und gefügt werden, dass sie beschädigungs- und rückstandsfrei immer wieder aus- und eingebaut werden können. Konstruktionen sollten robust und reparierbar sein, außerdem könnten Gebäude so flexibel geplant werden, dass sie nach ihrem ursprünglichen Zweck ohne großen Aufwand Umnutzungen zulassen oder über geplanten Rückbau in neue Bauwerke überführt werden können. Der Begriff „Urban Mining”, also die Stadt als Baustofflager zu betrachten und anstatt zu entsorgen wiederzuverwerten oder besser noch wiederzuverwenden, wird zukünftig eine große Rolle spielen. Aber auch das stellt nur den ersten Schritt zu einer kreislaufgerechten Bauwirtschaft dar.
Mut zur Innovation!
Bereits heute sind wir in der Lage, kreislaufgerechte und sortenrein konstruierte Gebäude zu planen und zu bauen. Dabei spielen mitunter längst verdrängte Techniken und Materialien eine neue Rolle. Holz, Lehm und Stroh als einzelnen Rohstoffe oder in Kombinationen können mit Hilfe modernster CAD- und CNC-Technik zu qualitativ hochwertigen und langlebigen Architekturen führen. Darüber hinaus ermöglichen innovative Bauweisen, frei von Klebstoffen und Silikonen, ein baubiologisch gesundes Wohnen für Mensch und Umwelt.
Herausragende Innovativbauten, wie das „Haus Rauch“ in Schlins, Österreich (2005-2008) zeigen, dass zeitgemäße Architektur mit Althergebrachtem neue Harmonien eingehen kann. Das Haus wurde vom Architekt Roger Boltshauser geplant und in dem eigens gegründeten Unternehmen von Martin Rauch (Lehm Ton Erde Baukunst GmbH) ausgeführt.
Material wie Lehm, Holz oder Stroh erfordert jedoch einerseits den sinnhaften Einsatz und die schlüssige Fügung der Konstruktion und andererseits das „Know-How“ in der Umsetzung. Daraus entstehen neue Felder und Potenziale in Planung und Handwerk, aber auch in der Beteiligung der Bauherrschaft.
Der Lernprozess
Bauwillige müssen lernen, mit neuen Materialien, aber auch mit der bestehendem Bausubstanz umzugehen. Dies erfordert aber nicht nur die Bereitschaft aller unmittelbar am Bau Beteiligter, sondern auch die rechtlichen Rahmenbedingungen und Normen, die das „neue“ Bauen und eine Wende hin zum kreislaufgerechtem Bauen ermöglichen und absichern. Ein Holz-, Lehm- oder Strohhaus stellt unsere Planungs- und Denkkultur der Beton-Massivbauweise auf den Prüfstand. Dabei steht insbesondere die integrative Planung im Fokus, aber ebenso die gesamte Kette der Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit nachhaltiger Bauwerke. Vorschläge dazu werden von vielen Verbänden, Universitäten und Vereinen bis hin zur Architektenkammer gefordert. Der BDA oder „Architects for Future“ publizieren Manifeste und zeigen Lösungswege auf. Diese Diskussion muss jetzt geführt werden und schnell in Gesetzen, Normen und strukturellen politischen Entscheidungen münden. Aber auch durch das Einfordern einer nachhaltigen Bauweise durch die Bauherrschaft kann der Wandel in Wirtschaft und bei Herstellern angestoßen werden, um eine Entwicklung zu einer resilienten und CO2-neutralen Ökonomie zu gestalten.
Wie wollen wir leben?
Neue kreislaufgerechte Materialien allein werden aber noch nicht reichen, um den enormen Schritt zu gehen. In allen Bereichen des Zusammenlebens und Bauens stecken Potenziale. Wie wird eine alternde Gesellschaft integriert? Wie hoch ist der tatsächlich Pro-Kopf-Flächenbedarf in Abhängigkeit von der Lebensphase? Wie können wir wieder stärker zusammen statt nebeneinander leben? Fragen, die weit über das Planen und Bauen hinausgehen und dennoch unmittelbaren Einfluss haben. Wir sollten über neue Wohnformen wie Mehrgenerationenhäuser, Cluster-Wohnformen oder Micro-Living-Modelle nachdenken, und wo der Gemeinschaft größere Flächen ermöglicht werden, ohne auf die Vorzüge der Privatheit verzichten zu müssen. Auf diese Weise könnten Flächen besser und effizienter genutzt oder gar getauscht werden. Wir müssen mit neuen, frischen Ideen Althergebrachtes neu interpretieren und sinnvoll ergänzen. Neutrale Grundrisse und eine Trennung von Funktionsschichten bei der Konstruktion ermöglichen eine Flexibiität der Gebäude, so dass diese länger verschiedenen Anforderungen gerecht werden können. Genaues Hinsehen und daraus resultierende kluge Umnutzungsstrategien könnten beispielsweise dafür sorgen, dass Parkhäuser nach ihrer Nutzung zu Wohnbauten werden können. Oder unsere Städte könnten um ein Dachgeschoss erweitert werden, das Sonnenenergie sammelt und den Bestand versorgt. Die Transformation hin zu einer nachhaltigen Bauweise wird neue Chancen eröffnen, die wir schon heute durch unsere Entscheidungen beeinflussen können. Dieser Prozess erfordert Mut und Wagnis, aber gleichermaßen auch Vernunft und Erfahrung.
Wir als Professur Nachhaltiges Bauen sehen es als unsere Aufgabe, der kommenden Generation von Architektinnen und Architekten die Werkzeuge und das Hintergrundwissen an die Hand zu geben, das es ihnen ermöglicht, aktiv die Transformation der Baukultur hin zu einem wertvollen Baustein der Energie- und Ressourcenwende mitzugestalten. Der Bezug zu realen und relevanten Themen spielt für uns dabei eine herausragende Rolle. Wir freuen und deshalb über die Kooperation mit der nestbau AG, die den Studierenden ermöglicht hat, in einer Art Reallabor wichtige Erfahrungen zu sammeln.
Verfasser:
M.A. Arch. Freier Architekt, Manuel Rausch
Teaching Assistant and Researcher at the Chair of Sustainable Construction
KIT Karlsruhe, Professur Dirk E. Hebel
KIT Karlsruhe – Campus Süd
Fakultät für Architektur
Institut Entwerfen und Bautechnik (IEB)
Mit einem Vorwort/Lektorat von:
Dipl.-Ing. Architekt, Daniel Lenz
Teaching Assistant and Researcher at the Chair of Sustainable Construction
KIT Karlsruhe, Professur Dirk E. Hebel